am Mahnmal auf dem Feuerbacher Friedhof am 19. November 2023, 12 Uhr
von Gudrun Greth, VVN/BdA
Liebe Anwesende,
wenn wir uns heute hier versammeln, um am Totensonntag der ermordeten Feuerbacher Widerstandskämpfer zu gedenken, stehen wir an dem Mahnmal, das vor 76 Jahren von Überlebenden initiiert wurde, die Widerstand geleistet, unvorstellbare Jahre in NS-Konzentrationslagern überlebt haben und uns damit ihre Erfahrung als Vermächtnis ans Herz legen.
Gertrud Müller, Überlebende Widerstandskämpferin und Mitbegründerin der VVN erinnert sich:
„Die VVN hatte 1947 mit Spenden der Feuerbacher Bevölkerung ein Mahnmal auf dem Friedhof in Feuerbach aufgestellt, auf dem die Namen von zwölf ermordeten Widerstandskämpfern aus Feuerbach zu lesen waren. In Feuerbach waren aber mehr Menschen ermordet worden als diese zwölf und ich habe von der Stadtverwaltung verlangt, dass weitere 18 Namen auf diesem Mahnmal angebracht werden. Es dauerte natürlich einige Zeit, bis die Stadt dies genehmigte. Nach einiger Zeit wurde damit begonnen, eine Aufstellung für das Mahnmal zu machen. Damals habe ich von unserem Bezirksvorsteher Wiedemann verlangt, das Ehepaar Weinberg einzubeziehen. Er hat mir geantwortet, er könne die beiden Namen nicht auf das Mahnmal setzen, weil sie nicht mehr in Feuerbach gewohnt hätten.“
Viele bürokratische und ideologische Hürden hatten die Überlebenden, die sich nach ihrer Rückkehr für das Lernen aus der Geschichte und den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft in Stuttgart einsetzten, zu überwinden, bis sie – nur 2 ½ Jahre nach Kriegsende – ein Mahnmal schaffen konnten, das uns dauerhaft erinnert, aus der Geschichte zu lernen.
Das Mahnmal hinter dem Alten Schloss, mit dem die Stadt Stuttgart im Gedenken an die Opfer des Faschismus erinnert, wurde erst 23 Jahre später – am 8. November 1970 – vom damaligen Oberbürgermeister Dr. Klett eröffnet.
Für die engagierten, überlebenden AntifaschistInnen galt es in der schwierigen Nachkriegszeit nicht nur Geld zu sammeln und Überzeugungsarbeit zu leisten gegen das Vergessenwollen. Vielmehr war es wichtig, über ideologische Grenzen / Parteigrenzen hinweg, auf einer gemeinsamen antifaschistische Basis ein Vermächtnis zu formulieren, das die späteren Generationen – eben auch uns – erreichen würde.
Die BegründerInnen der VVN Feuerbach – Gertrud Müller, Hans Müller, Eugen Weber, Walter Bernsdorf, Adolf Stümpflen, Karl Wagner, Lydia Schneider, Georg Wackenhut und Wilhelm Braun – haben sich sicherlich viele Gedanken um die Gestaltung des Mahnmals und seine Inschriften gemacht, bevor sie sich einigten auf diese Worte aus dem Gedicht „Die toten Kameraden von Sachsenhausen“ des 1909 geborenen Überlebenden Cuno Wojcewski:
„Geh Bruder nicht als Fremder von hier fort
die Scham entflamme dir am Menschenmord.
So wachse in das menschliche Begreifen
und sorg dass deine Brüder mit dir reifen.“
Und sie fügten den Gedichtzeilen eigene Wort hinzu, die ihnen wichtig waren und die für uns, die wir heute hier stehen, ein Vermächtnis sind:
„Den Toten zu Ehren, den Lebenden zur Pflicht“
Das Niederlegen eines Kranzes ist ein sichtbares Zeichen, doch die Ehrung der Toten geschieht, wenn wir uns an ihr Leben, ihre Leiden und vor allem an ihr Wirken, an die Beweggründe ihres Widerstandes erinnern, für die sie in der NS-Zeit verfolgt und ermordet wurden.
„Den Lebenden zur Pflicht“ – uns also als Aufgabe – als Anforderung – aufgegeben, der wir uns nicht entziehen können, weil die Geschichte die Wachsamkeit und persönlichen Einsatz erfordert, um das „Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus!“ Wirklichkeit werden zu lassen.
Nehmen wir das uns hier gegebene Vermächtnis an, haben wir zugleich die Aufgabe, dies weiterzugeben an die nächste Generation…
Das Lernen aus der Geschichte, aus der Vergangenheit in der Gegenwart schaut immer nach vorn unddient damit der Zukunft, einer Zukunft, die besser ist als die Gegenwart und die Vergangenheit.
Die Zielgruppe, die heute hier wenig vertreten ist und die es zu erreichen gilt, wenn sich etwas ändern soll, ist die Jugend.
Ich verstehe das „Sorg, dass Deine Brüder mit Dir reifen“ so: Der Austausch mit den Menschen, das gemeinsame Lernen ist die zukunftsgerichtete Gedenkaufgabe. Wenn ich also von jungen Menschen oder von Schulen angefragt werde, die aus der Vergangenheit lernen wollen, dann stehen die von Nazis Verfolgten und Ermordeten nicht als Opfer vor uns, sondern wir fragen uns: Wie wollten diese Menschen leben? Was an ihrer Lebensweise, an ihrem Sein, Ihrem Selbstverständnis, ihren Gedanken, Werten, Wünschen und Vorstellungen störte die Nazis so, dass sie diese Menschen vernichten wollten?
Auch die zeitliche Folge der Verfolgung in der NS-Zeit spielt dabei eine Rolle: Zunächst sperrten die Nazis ihre politischen Gegnerinnen und Gegner ein, machten die mundtot und ermordeten zunächst diejenigen, die die Schreckensherrschaft des Faschismus verhindern wollten – die Sozialdemokraten, Sozialisten und Kommunisten, die Mitglieder der Arbeitervereine und der Gewerkschaften. Die Menschen, die lange vor 1933 gewarnt hatten, dass Faschismus Krieg bedeutet und die sich aktiv einsetzten für eine neue Gesellschaft ohne Krieg und Hunger, für eine vielfältige, gerechte Gesellschaft.
Die Antifaschisten wollten nicht zulassen, dass nur wenige Jahre nach dem verheerenden 1. Weltkrieg erneut Elend, Hunger und Not und ein weiterer Krieg das Leben von Menschen und von ihnen geschaffene Werte vernichtet.
Die Antifaschisten setzten sich mit der Vorstellung einer Gesellschaft auseinander, in der die Menschen ohne Ausbeutung und ohne Krieg ihre Leben aufbauen, die Kultur weiterentwickeln und sich bilden können, so dass die Menschheit sich weiter entwickelt zum Wohle aller und nicht nur weniger Besitzender, die sich an der Arbeit Vieler bereichern.
Wie sieht es da mit dem Lernen aus der Geschichte aus?
Wo stehen wir heute?
Heute investieren die reichsten Menschen der Welt ihr Geld in die Erforschung neuer Lebensräume außerhalb unserer Erde, weil sie deren Zerstörung, an der sie maßgeblich beteiligt sind, sehen und sie einzig für sich und ihresgleichen einen Ausweg suchen.
Die Frage muss erlaubt sein, ob wir eine Gesellschaft wollen, in der ein einziger Mensch 233,6 Milliarden Euro besitzt. Alleine mit jährlich knapp 13 Mrd. Euro wäre es möglich, den Hunger auf der Welt bis 2030 weitgehend zu beenden. Doch heute hungern 735 Millionen Menschen auf der Welt, ihr Grundrecht auf Leben und Nahrung wird nicht eingelöst.
Eine unglaubliche Vorstellung, dass allein Elon Musk, wenn er die notwendigen 91 Mrd. für die nächsten 7 Jahre abgeben würde, um den Hunger in der Welt zu bekämpfen, noch immer mindestens 142,6 Mrd. besäße …. Aufgrund eines Vermögens, das er sich keinesfalls mit eigener Hände Arbeit angeeignet hat. Und Elon Musk ist nur einer von den Wenigen, die mit dem Leben und der Gesundheit der Mehrheit der Menschen spielen. Weltweit gibt es derzeit 2640 sog. „Dollarmilliardäre“ – eine Winzigkeit gegenüber fast 8 Milliarden Menschen, auf der Kosten sie leben und deren Überleben sie gefährden.
Die Spezies Mensch ist noch nicht ausgestorben, doch mit den jährlich bis zu 58 000 Arten, die aussterben, wird auch das Überleben der Menschheit unsicherer.
Millionen engagierter Menschen setzen sich mit unterschiedlichen Aktionsformen ein für ein Leben ohne Hunger und Krieg, für ein gesundes Klima, für kulturelle und für Artenvielfalt.
Wir und auch die jungen Menschen, mit denen ich in den Schulen spreche, wissen: Es ist nicht richtig/es darf nicht sein, dass
- Kinder statt einer sicheren Lebensgrundlage in Krieg und Hunger aufwachsen,
- Eltern wie Bittsteller um Bildung und Betreuung ihrer Kinder kämpfen müssen,
- junge Menschen, die sich für ein besseres Leben engagieren, kriminalisiert werden,
- arbeitende Menschen von ihrem Lohn nicht leben können,
- alte Menschen das Gefühl bekommen, sie sollten besser sterben, weil kein Geld da ist für ihre Pflege und ein menschenwürdiges Leben im Alter,
- kranke Menschen bangen müssen, ob ihre notwendigen Medikamente noch lieferbar sind, ob es eine Klinik gibt, in der sie behandelt werden können und dass es genügend ausgebildete Ärzte und Pflegekräfte gibt, die gerecht entlohnt und auf deren psychische Gesundheit geachtet wird,
- Menschen, die nach Deutschland gekommen sind, weil ihr Leben im angestammten Heimatland unerträglich wurde, als lästige, teure Eindringlinge behandelt werden, anstatt dass man ihnen über sprachliche und kulturelle Hürden hilft und ihnen Arbeit anbietet, damit sie ihr Leben gestalten können,
- Angehörige von Minderheiten sich unsicher fühlen, ihre Kultur oder ihre Lebensweise verbergen, anstatt sie stolz zu leben und sie ggf. mit der Mehrheitsgesellschaft zu teilen und damit den Reichtum der Vielfalt beweisen,
- Krankheiten nicht mehr erforscht werden, weil ihre Bekämpfung keinen Profit erbringt.
An den Privatisierungen ehemals staatlicher Unternehmen und den aus dem Profitdenken entstandenen Gesetzen zeigt sich die inhumane Fratze des Kapitalismus mit seinem Zwang zur Profitmaximierung selbst in lebenswichtigen Bereichen.
Was wurde für die Menschen gewonnen mit dem 1972 eingeführten „Selbstkostendeckungsprinzips“ im Krankenhausfinanzierungsgesetz, das die von Kohl 1987 angekündigte und 1988 im Gesundheitsreformgesetz festgeschriebene „Strukturreform“ im Gesundheitswesen umsetzte, die ein bedrohliches, massives Kliniksterben und das stetige Ausbluten des Gesundheitssystem zur Folge hat.
Was wurde für die Menschen gewonnen mit der Privatisierung der Bundesbahn zur Deutschen Bahn 1994 – Streckenstillegungen, unpünktliche Verbindungen, das Verhökern notwendiger Infrastrukturauf Kosten des Personals und der Qualität des Angebots für die Kunden zugunsten der Aktiengesellschaft Deutsch Bahn AG.
Was wurde ab 1995 für die Menschen gewonnen mit der Umwandlung der Deutschen Bundespost in die drei Aktiengesellschaften Deutsche Post, Postbank und Telekom?
Was wird für die Menschen gewonnen, wenn immer mehr Städte und Gemeinden ihr öffentliches Eigentum wie Wasserwerke, kommunale Energieunternehmen und Wohnungen aus dem öffentlichen Wohnungsbau an private Gesellschaften verkaufen?
Mit der Privatisierung öffentlichen Eigentums können arbeitende Menschen nur verlieren, denn private Betriebe unterliegen ungeschützt dem Wettbewerb des Marktes.
Es ist also völlig klar, dass grundlegende Bereiche des Lebens wie Wasser, Wohnen, Bildung, Gesundheitswesen und Verkehr in privater Hand nicht mehr in erster Linie allen Menschen dienen. Das darf nicht sein, das führt unweigerlich zu Mangel und Streit, zu Not und Krieg.
„Es ist genug für alle da!“ Die Erde hält alles bereit, was die Menschheit braucht und noch viel mehr.
Was können wir tun? Was kann jede und jeder Einzelne tun?
Ja, wir brauchen eine Wertedebatte. Aber nicht eine, die sich gegen eingewanderte Menschen und ihre Kultur richtet, sondern in der wir fortlaufend und unermüdlich unsere humanistischen Werte austauschen, um jeweils auf einer gemeinsamen Grundlage unser Leben und Zusammenleben zu verbessern.
Die 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen beschlossenen Menschenrechte sind eine solche Grundlage – es gilt sie laufend zu verstehen, zu diskutieren, ihnen gesetzliche Grundlagen zu geben und sie konsequent umzusetzen und deren Umsetzung immer wieder auf die Umsetzung unserer Werte zu überprüfen.
Die bereits 1972 vom Club of Rome mit dem Bericht „Grenzen des Wachstums“ aufgezeigten Zukunftsperspektive erfordert keine neue „Klimadebatte“, sondern ein konsequentes Handeln auf der Grundlage von Gesetzen, die den gemeinsam vereinbarten Werten entsprechen.
Das Nachdenken und Sprechen werden erst wirksam im Handeln.
Je mehr es uns gelingt, zu jeder Zeit und an jedem Ort uns aktiv einzusetzen für eine friedliche, humane und gerechte Welt, desto besser und lebenswerter wird unsere Gesellschaft.
„So wachse in das menschliche Begreifen und sorg dass deine Brüder mit dir reifen“ verstehe ich auch als Auftrag zu jeder Zeit und an jedem Ort einzutreten für diejenigen, denen dies selbst nicht möglich ist und umgehend mutig für unsere Werte einzustehen.
Miteinander reifen heißt für mich als älteren Menschen gerade auch mit jungen Menschen gemeinsam am Leben zu lernen, ihre Ideen, Vorstellungen und Ziele zu hören, verstehen zu wollen und mit ihnen meine Erfahrungen und Ziele zu teilen, über gemeinsam zu Erreichendes zu reden und gemeinsam zu kämpfen für eine Welt ohne Faschismus, für eine Welt des Humanismus, in der die Würde jedes einzelnen Menschen geachtet wird.
Jede Schülerin, jeder Schüler, der sich mit dem Leben auch nur eines der hier aufgeführten Widerstandskämpfer befasst oder mit dem der Initiatorinnen und Initiatoren des Mahnmals, ehrt diese und wird den Auftrag spüren, aus der Geschichte zu lernen.
Wir, die wir heute hier stehen, sind dafür verantwortlich, dass jungen Menschen Fragen an das Leben, an die Gesellschaft stellen, die das Lernen aus der Vergangenheit in der Gegenwart ermöglichen, in dem sie ihre Zukunft in den Blick nehmen.
Dazu können wir täglich in der Familie, in Vereinen und anderen Organisationen beitragen, wie uns dies die überlebenden AntifaschistInnen langjährig aktiv vorlebten.
Jede Schulklasse, die sich mit den 28 Menschen befasst, deren Namen hier aufgeführt sind und mit der Entstehung dieses Mahnmals wird hinausgehen über ihre Geschichtsforschung hinein in ihr eigenes Leben und für die Zukunft lernen. Begleiten wir sie freundschaftlich und offen dabei wie es die Stolperstein-Initiativen tun oder die Kontext Wochenzeitung im Projekt „Journalismus zum Selbermachen“ mit der Bismarckschule Feuerbach.
Das „Nie Wieder ist jetzt, hier und heute!“ darf keine leere Formel sein, es liegt an jeder/m von uns, sie mit Leben zu füllen.
In diesem Sinne im Gedenken an die von Faschisten ermordeten Feuerbacherinnen und Feuerbacher legen Manfred Jansen, Kreisleitung Stuttgart der VVN/BdA, und Susanne Bödecker im Namen der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/ Bund der AntifaschistInnen einen Kranz nieder.