Rede am 25.07.24 von Jürgen Wagner (IMI Tübingen) zur Kundgebung und Demo gegen Mittelstreckenraketen

Liebe Freundinnen und Freunde,
ich gebe es ehrlich zu: ich stehe hier einigermaßen konsterniert vor Euch! Denn noch vor kurzer Zeit hätte ich es mir nicht träumen lassen, dass wir heute hier gegen die geplante Aufstellung von Mittelstreckensystemen in Deutschland protestieren müssen.

Mir jedenfalls wird das eine Lehre sein, mich nicht mehr darauf zu verlassen, dass die Regierung wenigstens auf die aller waghalsigsten Schritten verzichtet – sie tut es offensichtlich nicht! Denn um genau das handelt es sich, um einen brandgefährlichen Schritt, der die Gefahr einer Konfrontation mit Russland weiter erhöht und Deutschland zu einem zentralen Schauplatz dieser Auseinandersetzungen macht. 

Vorgeschichte I: INF 

Und es ist nicht so, als hätte man das eigentlich nicht kommen sehen können: 

Den Auftakt bildete die US-Kündigung des INF-Vertrages durch die USA im Februar 2019.  Er verbot Besitz, Test, Produktion und Stationierung landgestützter Waffensysteme mit einer Reichweite von 500km bis 5.500km. Begründet wurde der Ausstieg damit, Russland habe zuerst mit seinem Marschflugkörper 9M729 den Vertrag verletzt. Russland erwiderte, der Marschflugkörper habe nicht wie die NATO behauptet eine Reichweite von 2.500km, sondern von 480km und bot Vor-Ort-Inspektionen an.

Liebe Freundinnen und Freunde,
Verifikationsexperten geben an, mit solchen Inspektionen wäre zweifelsfrei beweisbar gewesen, ob eine Vertragsverletzung vorgelegen hätte oder nicht.

Und was wurde getan? Der Westen lehnt dieses Angebot, wie auch spätere russische Vorschläge für ein Moratorium auf die Stationierung von Mittelstreckensystemen rundweg ab. Russland sei nicht zu trauen, war die lapidare Begründung.

Liebe Freundinnen und Freunde, 
das mag schon sein – und es mag ebenfalls sein, dass Russland eine Vertragsverletzung begangen hat.

Aber nicht nur die russische Regierung hat jeden Vertrauensvorschuss verspielt, dasselbe gilt für den Westen mit seiner langen Geschichte nicht-existierender Raketenlücken und dergleichen.

Liebe Freundinnen und Freunde, 
das ganze stank damals schon zum Himmel: Schon im März 2019 wurde gemeldet, die USA hätten mit der augenscheinlich schon lange vorbereiteten Produktion von Mittelstreckensystemen begonnen.

Vorgeschichte II: MDTF & 56. Artilleriekommando

Ein nächster wichtiger Schritt war im September 2021 die Aktivierung der europäischen Multi Domain Task Force (MDTF) mit Sitz in Wiesbaden. 

Dabei handelt es sich um Teilstreitkräfte übergreifende Einheiten, denen genau solche Mittelstreckensysteme zugeordnet sind, die nun auch in Deutschland stationiert werden sollen. Im November 2021 wurde dann noch das 56. Artilleriekommando reaktiviert: Symbolisch befehligte die Pershing-II während der Nachrüstung der 1980er Jahre. 

Liebe Freundinnen und Freunde,
erst wurde uns in mehreren Anfragen im Bundestag und Hessischen Landtag gesagt, es gäbe keine Pläne zur Stationierung dieser Waffen. Und jetzt sagen sie uns, das sei alles halb so wild, weil es sich um konventionelle und nicht atomare Systeme handele.

Doch das ist Quatsch, das alles ist sehr wohl wild und es ist überaus gefährlich.

Stationierte Systeme

Am 10. Juli 2024: Deutsch-amerikanische Erklärung Stationierung ab 2026 – 3 Systeme: 

  1. Boden-Luft-Rakete SM-6: Upgrade Boden-Boden: Reichweite 1600km Kilometern – Hyperschall: 6200km/h
  2. Tomahawk: Marschflugkörper: Reichweiten 1.700 – 2.500km
  3. Hyperschallwaffe: Dark Eagle: Reichweite 2.700-3.000km – Tempo: bis zu Mach 17 (21.000km/h)

Destabilisierende Waffen

Ob nuklear oder nicht: Aus russischer Sicht handelt es sich dabei um strategische Offensivwaffen. Sie können mit hohem Tempo sowie großer Manövrierfähigkeit und Präzision Ziele tief im russischen Raum einschließlich Moskau ins Visier nehmen. 

Und das wird triumphierend teils auch genau so gesagt. Vor wenigen Tagen schrieben  Jonas Schneider und Torben Arnold von der regierungsberatenden Stiftung Wissenschaft und Politik: 

„Nicht nur die LRHW, auch die SM 6-Version der Army fliegen mit über fünffacher Schallgeschwindigkeit und sind im Zielanflug manövrierbar. Daher sind sie hocheffektiv gegen mobile Ziele und sehr schwer abzufangen, selbst für moderne Raketenabwehr. Die Dark Eagle ist mit bis zu 17-facher Schallgeschwindigkeit kaum zu stoppen. Mit dieser hohen Eindringfähigkeit sind beide Waffen ideal, um auch solche russischen Hochwertziele auszuschalten, die gezielt geschützt werden. Die überaus teure Dark Eagle ist wohl für die wertvollsten Ziele vorgesehen; die SM 6 bietet dazu eine günstigere Alternative. Der Tomahawk fliegt zwar nur im Unterschallbereich, dafür aber extrem tief. Damit kann er oft unterhalb eines gegnerischen Radars bleiben und so der Luftabwehr entkommen.“

Liebe Freundinnen und Freunde
„hocheffektiv“, „schwer abzufangen“, „kaum zu stoppen“ gegen „Hochwertziele“.

Ob man das mag oder nicht: Russland wird aus eigener Sicht überhaupt nichts anderes übrig bleiben, als mit weiteren destabilisierenden Gegenmaßnahmen einen möglichen Enthauptungsschlag abzuschrecken.

Und das ist auch die Einschätzung vieler Experten. Stellvertretend sei hier Brigadegeneral a.D. Helmut W. Ganser zitiert: 

„Aber allein diese Angriffsoption wäre destabilisierend und gefährlich, weil Russland im permanenten Alarmzustand verharren würde und weil Fehlalarme im schlimmsten Fall zum Start von Atomraketen führen können. Überdies muss wohl davon ausgegangen werden, dass mit der Stationierung der Marschflugkörper und Hyperschallgleiter eine Verlängerung des 2026 auslaufenden New-Start-Vertrags mit Obergrenzen für die strategischen Atomwaffen beider Seiten unmöglich wird.“

Deutschland als Hochwertziel

Liebe Freundinnen und Freunde,
ich habe es gesagt, die zentralen Einheiten haben ihren Sitz in Wiesbaden, die Waffen werden wahrscheinlich in Grafenwöhr stationiert. Und die übergeordnete Kommandozentrale ist das EUCOM mit Sitz hier in Stuttgart-Vaihingen.

Als zentraler Stationierungsort im neuen Raketenschach rückt Deutschland damit zwangsläufig auch ins Visier der russischen Planungen. 

Auch das ist jetzt nicht unsere Privatmeinung in der Friedensbewegung. Genauso schätzt das zum Beispiel Oberst a.D. Wolfgang Richter ein: 

„Wenn es zu einem Konflikt mit Russland kommt, wird man natürlich versuchen aus russischer Sicht diese Waffen zunächst einmal als Ziele auszuschalten. […] Es gibt ja Kommandobehörden, die sogenannte Multi Domain Task Force hat ihren Sitz bereits in […] Wiesbaden und das ist dann natürlich ein erstrangiges Ziel.“

Liebe Freundinnen und Freunde,
ohne vorherige parlamentarische oder öffentliche Debatte leitet hier die Exekutive eine neue Nachrüstung ein, die in Wahrheit eine Aufrüstung ist.

Und deshalb sind wir heute hier: Weil wir keine weitere Eskalation  wollen – und weil wir nicht wollen, dass Deutschland zu einem Hochwertziel im neuen Raketenschach wird!