In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 brannten die Synagogen im gesamten Deutschen Reich sowie in Österreich und in der Tschechoslowakei. Angezündet von SA und SS, organisiert, vorbereitet und angeleitet von Partei, Regierung und Behörden des faschistischen Staates. Am nächsten Tag wurden mehr als 7.000 jüdische Geschäfte geplündert, zehntausende jüdische Menschen verhaftet und über 100 ermordet. Die Polizei verschleppte 26.000 jüdische Männer aus ganz Deutschland, – vor allem in die Konzentrationslager Dachau, Sachsenhausen und Buchenwald.
Pogromnacht in Stuttgart
In Feuerbach stand Mitte der 1930er Jahre in der heutigen Stuttgarter Straße 55 das angesehene jüdische Kaufhaus Max Helfer. Dort konnte man fast alles bekommen: „Der Helfer hilft!“, sagten die Leute. Eine kleine Sensation war die Rolltreppe vom Erdgeschoss in den ersten Stock – vor allem beliebt bei den Kindern, so auch bei den zwei Töchtern des Geschäftsinhabers, der mit seiner Familie in Obertürkheim wohnte.
In der Pogromnacht am 9. November 1938 wurde das Geschäft schwer demoliert, geplündert und auf Befehl der Gestapo sofort geschlossen. Die Ehefrau, Pauline Helfer, musste die Scherben und Trümmer selbst beseitigen, denn laut Verordnung „hat der jüdische Inhaber die Schäden, die durch die Empörung des Volkes über die Hetze des internationalen Judentums entstehen, sofort zu beseitigen und dafür die Kosten zu tragen.“ Ihr Ehemann Max war kurz zuvor nach Polen deportiert worden. Im Arbeitslager Biesiadka leistete er Zwangsarbeit und starb 1942 angeblich an einer Lungenentzündung. Die Kinder konnten mit Hilfe eines Hilfskomitees der Quäker 1939 nach England gebracht werden und kehrten nach dem Krieg zu ihrer Mutter zurück.
Recherche und Text: Heinz und Hildegard Wienand, Stolperstein-Initiative Feuerbach/Weilimdorf
Fritz Bauer – 120. Geburtstag eines Antifaschisten
Fritz Bauer, geboren am 16. Juli 1903, wuchs als Kind einer jüdischen Kaufmannsfamilie in Stuttgart auf. Nach seinem Studium der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften wurde er 1930 jüngster Amtsrichter in der Weimarer Republik. Im Zusammenhang mit Planungen zu einem Generalstreik gegen die Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde Fritz Bauer am 23. März 1933 festgenommen, acht Monate im KZ Heuberg inhaftiert und Ende 1933 wieder aus der Haft entlassen. 1936 floh er nach Dänemark. Nach Kriegsende zog Fritz Bauer 1949 zurück nach Deutschland und wurde 1956 hessischer Generalstaatsanwalt. Sein Ziel war es, beim Aufbau eines demokratischen Justizwesens mitzuwirken und die NS-Verbrechen vor Gericht zu bringen. Er versuchte, Erinnerung und Aufklärung zu ermöglichen – entgegen einer von braunen Seilschaften geprägten Justiz, alten Machtstrukturen und umgeben von einer Bevölkerung, für die durch die Erfahrungen des Faschismus Wegschauen, Verschweigen, Lügen und dreistes Unrechtsbewusstsein in ihrer Mehrheit Normalität waren. Er sagte: „Nichts gehört der Vergangenheit an. Alles ist Gegenwart und kann wieder Zukunft werden.“ In seinem Amt initiierte Fritz Bauer einige große Prozesse gegen ehemalige NS-Funktionäre. Außerdem gab er den entscheidenden Hinweis auf den Aufenthaltsort Adolf Eichmanns, einem der Hauptorganisatoren des Holocaust, sodass Eichmann 1961 in Argentinien gefasst und anschließend in Jerusalem vor Gericht gestellt werden konnte. Fritz Bauer war zudem der maßgebliche Initiator des Frankfurter Auschwitz-Prozesses 1963 bis 1965. Im ersten und größten Verfahren steuerte er die Anklageerhebung gegen 22 mutmaßliche NS-Täter. 1965 eröffnet Fritz Bauer die Voruntersuchungen für einen weiteren Prozess gegen NS-Juristen, die „Euthanasie“-Morde ermöglichten. Nach seinem Tod 1968 wurden diese jedoch nicht weitergeführt. Die fehlende Aufarbeitung und oberflächliche „Entnazifizierung“ haben zur Folge, dass rechte Strukturen auch heute noch in unseren gesellschaftlichen und politischen Institutionen vorhanden sind. Fritz Bauer führte bis zu seinem Tod den Kampf gegen den Faschismus. Sein Anliegen war, „sich seiner zu erinnern, über ihn aufzuklären, seine Wurzeln zu erkennen – und vor allem sein Fortwirken.“
Heute: Die unterschätzte Gefahr von Rechts
Heute stehen wir als Antifaschist*innen erneut vor der Herausforderung der kontinuierlichen, sich zuspitzenden Rechtsentwicklung durch Erstarken faschistischer Bewegungen, erneuter Hochrüstung sowie Demokratie- und Sozialabbau. Fritz Bauer sagte nach dem Auschwitzprozess: „Die Bewältigung der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist gewiss nicht allein, auch nicht vorzugsweise eine Sache der Strafjustiz. Sie geht uns alle an.“ So dürfen wir auch heute den Kampf gegen Rechts nicht der Polizei und dem Staat überlassen, sondern müssen selbst aktiv werden. Wir müssen uns Faschisten in Parlamenten, Rechten, die versuchen Proteste auf der Straße zu unterlaufen oder rassistischer, antisemitischer und rechter Hetze in der Gesellschaft konsequent entgegenstellen.
Die Umfragerekorde der AfD zeigen, dass offener Faschismus immer populärer wird. Bundesweit nehmen rechte Straftaten zu, antisemitisch motivierte Angriffe, trans- und queerfeindlich motivierte Gewalt, aber auch die Zahl der Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte. Letztere ist im Jahr 2022 erstmals seit 2015 wieder gestiegen. Offener Rassismus, wie die Hetze gegen Geflüchtete, wird dabei nicht nur von Einzelnen begangen, sondern politisch geführt. Dies zeigt sich an den EU-Außengrenzen. Die Asylrechts“reform“ ist eben keine „neue, solidarische Migrationspolitik“, wie von Bundesinnenministerin Nancy Faeser behauptet. Es ist die Verwehrung von Grundrechten, die Masseninhaftierung schutzsuchender Menschen und das genaue Gegenteil von Solidarität. Gleichzeitig sind Migrant*innen, die als Arbeitskräfte von den Kapitalverbänden genutzt werden können, erwünscht und werden in einer kapitalistischen Logik sogar benötigt.
Obwohl die Rechtsentwicklung in Politik und Gesellschaft unübersehbar ist, warnt Bundesinnenministerin Nancy Faeser vor der „Gefahr von Links“. Dies hat zur Folge, dass staatliche Repressionen besonders gegen Antifaschisten*innen, aber auch gegen andere demokratische Bewegungen, gerade jetzt immer weiter zunehmen. Die Folge sind politisch geführte Gerichtsverfahren mit langen Haftstrafen, Verbote von Demonstrationen, Einschränkung der Versammlungsfreiheit und die mediale Hetze gegen Antifaschist*innen. Diese Verzerrung ist extrem gefährlich. Strukturen wie der NSU oder die Vielzahl an rechten Chatgruppen bei Polizei und Bundeswehr zeigen uns, dass faschistische und rassistische Taten keine Einzelfälle, sondern im Staat und seinen Institutionen selbst verankert sind. Während des Faschismus wurde die Justiz dazu benutzt, Verbrechen zu ermöglichen und zu legitimieren. Fritz Bauer schrieb 1955: „Ich wollte ein Jurist sein, der dem Gesetz und Recht der Menschlichkeit und dem Frieden nicht nur Lippendienst leistet.“ Bis heute ist es wichtig, Antifaschismus in jeglicher Form nicht nur als Lippenbekenntnis zu begreifen, sondern ihn aktiv zu leben. Das Gedenken an die Reichspogromnacht ist dabei Teil dieses Kampfes.
Gegen das Vergessen – Kommt am 9. November zur Gedenkkundgebung!
Für uns gilt getreu dem Schwur von Buchenwald:
Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.
Donnerstag, 9. November 2023 ab 18.00 Uhr auf dem Cannstatter Marktplatz
anschließend Demonstration zum Platz der ehemaligen Synagoge – 19.00 Uhr Kranzniederlegung
Mit Reden von:
Sidar Carman; Geschäftsführerin, ver.di Bezirk Stuttgart
Vertreter:in des Antifaschistischen Aktionsbündnis Stuttgart und Region (AABS)
Beitrag Stuttgarter Jugendorganisationen
Kulturprogramm: Freier Chor Stuttgart mit antifaschistischen Liedern
Dieser Aufruf wird unterstützt von:
Antifaschistisches Aktionsbündnis Stuttgart (AABS); Antifaschistische Aktion Stuttgart (Ortsgruppe der Antifa Süd); DIDF, Freundschafts- und Solidaritätsverein Stuttgart e.V.; DIDF – Jugend Stuttgart; DIE LINKE OV Bad Cannstatt, Münster, Mühlhausen; DGB Stadtverband Stuttgart; DIE LINKE Stuttgart; DKP (Deutsche Kommunistische Partei) Stuttgart; FrAKTION LINKE SÖS PIRATEN TIERSCHUTZPARTEI Stuttgart; Freundschaftsgesellschaft BRD-Kuba Regionalgruppe Stuttgart; Friedenstreff Cannstatt; Friedenstreff Stuttgart Nord; Groll, Renate und Manfred, Gerlingen; GRÜNE JUGEND Stuttgart; Hofmann, Reiner; Krisenbündnis Stuttgart; Linksjugend [`solid] Stuttgart; Organisation für den Aufbau einer Kommunistischen Arbeiterpartei/ Arbeit Zukunft; „organisierte autonomie Stuttgart“; SDAJ (Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend) Stuttgart; Sozialistischer Demokratischer; Stadtjugendring Stuttgart; Studierendenbund Stuttgart (SDS); ver.di Bezirk Stuttgart; ver.di – Jugend Stuttgart; VVN-BdA, Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten; Verein Zukunftswerkstatt e.V., Zuffenhausen; VÖS (Vaihingen Ökologisch Sozial); Waldheim Stuttgart e.V. / Clara Zetkin Haus; Waldheim Gaisburg e.V.; Zukunftsforum Stuttgarter Gewerkschaften
Veranstalter: Bündnis zum Gedenken an die Opfer der Pogromnacht in Cannstatt