Rede zum Flaggentag der Mayors for Peace

Dr. Jörg Schmid, IPPNW

page1image24047184

Ich darf heute ein paar Worte an Sie richten als einer der 6000 deutschen Ärztinnen und Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges.

Wir stehen hier zu einem Zeitpunkt, an dem der russische Krieg in der Ukraine weiter eskaliert – auch in der Drohung Putins, gegebenenfalls taktische wie strategische Nuklearwaffen einzusetzen. Die seit Jahrzehnten andauernde Warnung der Friedensbewegung vor einem erneuten nuklearen Wettrüsten der Atommächte und vor einem Atomkrieg in Europa ist nun wieder erschreckend nahe gekommen.

Dabei hatten die USA und Russland noch am 3. Januar 2022, also kurz vor Kriegsbeginn, zusammen mit China, Großbritannien und Frankreich erklärt, dass sie anerkennen, dass ein Atomkrieg nicht gewonnen werden kann und nie geführt werden darf.

Daran kann und muss jetzt mit einer rechtsverbindlichen Erklärung angeknüpft werden, in der Russland und die USA einen Ersteinsatz von Atomwaffen jeweils ausschließen !
Ein jetzt erklärter westlicher Verzicht kann dabei den Weg ebnen zu einem ebensolchen Verzicht Russlands.

Dies wäre ein aktuell dringend notwendiges Zeichen zur Deeskalation des Ukraine- Krieges – die Bundesregierung, unser Kanzler, muss diesen Verzicht auf einen atomaren Erstschlag jetzt mit aller Dringlichkeit von der USA einfordern !

Dies wäre auch ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur allgemeinen Anerkennung des UN-Vertrags über ein Verbot von Atomwaffen.

Die Stadt Stuttgart hat 2020 wie viele der mayor for peace-Städte den ICAN-Appell unterschrieben und damit die Bundesregierung aufgefordert, dem UN-Vertrag über ein Atomwaffenverbot beizutreten. Rund 650 deutsche Abgeordnete im Europaparlament, dem Bundestag und den Landtagen haben mittlerweile ebenso eine Erklärung zur Unterstützung des Verbotsvertrages unterzeichnet.

Atomwaffen sind völkerrechtlich eindeutig und klar geächtet – dafür steht der Verbotsvertrag. Er wurde 2017 von den Vereinten Nationen durch eine breite Mehrheit von 122 Staaten angenommen und trat am 22. Januar 2021 in Kraft. Mittlerweile haben ihn über 90 Staaten ratifiziert.

Das Inkrafttreten des Vertrags war ein Meilenstein der globalen Bewegung für nukleare Abrüstung. Die Initiative ICAN, von der IPPNW als Tochterorganisation gegründet, hat hierfür 2017 den Friedensnobelpreis erhalten !

Der Vertrag verkörpert den Willen von uns allen, ohne Atomwaffen leben zu wollen. Er stellt einen Sieg der internationalen Demokratie und der multistaatlichen Diplomatie über die Dominanz der 9 Atommächte dar. ABER: Deutschland fehlt bisher unter den Unterzeichnerstaaten.

MEHR NOCH: Deutschland ist explizit Bestandteil der nuklearen Bedrohung, indem es die Stationierung von US-Atombomben im Fliegerhorst Büchel erlaubt und mitfinanziert. Damit legalisiert und unterstützt Deutschland den Besitz von und die Drohung mit Atomwaffen, was auch in der neuen Nationalen Sicherheitsstrategie der Bundesregierung bekräftigt wird.

Gleichzeitig stellt sie enorme Geldsummen, und das fast ohne gesellschaftliche Debatte, für eine massive Aufrüstung bereit. Die in Büchel gelagerten US- Atombomben werden aktuell „modernisiert“, d.h. diese werden anwendungstauglicher gemacht – mit der Folge, dass deren taktischer Einsatz auch wahrscheinlicher wird. Dazu tragen die neuen F35-Tarnkappenbomber bei, die die Bundesregierung bestellt hat und mit denen im Kriegsfall US-Atombomben durch deutsche Piloten abgeworfen werden sollen.

Wir fordern deshalb klar und unmissverständlich: Deutschland muss endlich raus aus der nuklearen Teilhabe ! Deutschland muss endlich atomwaffenfrei werden !

Die Bundesregierung verliert jedwede Glaubwürdigkeit, wenn sie die Stationierung russischer Atomwaffen in Weissrusslands streng verurteilt, aber selber die eigene nukleare Teilhabe mit der USA aufrechterhält. Gerade auch in einem laufenden Krieg muss das Prinzip der Gewaltreduktion und das der Deeskalation Vorrang haben.

Die IPPNW plädiert deshalb für einen Verhandlungsfrieden und für die Suche nach einem Interessensausgleich zwischen Russland und der Ukraine. Dies ist eine notwendige Alternative zur aktuellen deutschen Politik, die allein auf massive militärische Aufrüstung der Ukraine und Europas setzt – und sie stimmt leider in den Chor der Sieges-Parolen ein und begünstigt damit die übliche polarisierende Kriegsrhetorik.

Deutschland hat hier jede historisch angeratene Zurückhaltung verloren. Durch die erst kürzlich erfolgte Zusage über erneute Panzer – und Raketenlieferungen an die Ukraine sind wir in Deutschland mittlerweile sichtbar zur Kriegspartei geworden, mit all den möglichen Konsequenzen !

Und ich sage es in aller Deutlichkeit: Diese Militarisierung und diese Aufrüstung geschieht nicht in unserem Namen.

Die Wahrheit ist, dass alle Beteiligten, zuvorderst die Ukraine und Russland, verlieren werden, wenn der Krieg auch nur einen Tag länger weitergeht. Wer von einem möglichen Sieg redet, auf welcher Seite auch immer, belügt die Bevölkerung ! Wir lassen es nicht zu, dass zwischen erschossenen russischen und ukrainischen Soldaten moralisch unterschieden wird.
Weil jeder toter Soldat ein zu betrauernder toter Soldat ist, weil jedes getötete Kind oder jede getötete Privatperson eine Gestorbene ist, weil ein Mensch ein Mensch ist – deshalb muss dieser Krieg aufhören. Wir müssen einen Waffenstillstand anstreben und zunächst die hinter dem Krieg stehenden Interessens-Konflikte einfrieren. Neben den völkisch-nationalen und imperialen Kriegs-Motiven Russlands besteht eben auch ein Konflikt zwischen der NATO und Russland.

Langfristig müssen wir auf eine neue europäische und internationale Friedens- Architektur hinarbeiten, die auf dem Prinzip der gemeinsamen Sicherheit aufbaut, hinarbeiten.

Wir Ärztinnen und Ärzte sind alarmiert, denn alle Atommächte stocken aktuell ihr konventionelles wie nukleares Arsenal auf.

Die Doomsday-Uhr, die uns auf das Risiko eines atomaren Weltuntergangs hinweist, steht 90 Sekunden vor 12 ! Die Zeit für friedenspolitisches Handeln drängt also !

Miteinander reden – ja und unbedingt – gerade in Zeiten, in denen die Angst vor einem Atomkrieg zurück ist und der russische Angriffskrieg in der Ukraine unsere friedenspolitischen Grundsätze auf eine Probe stellt.

Wir setzen auf Austausch und Aufklärung – es gibt hierzu keine Alternative.

Was der US-amerikanische Kardiologe Bernard Lown und sein sowjetischer Kollege Evgenij Chazov im Kalten Krieg vor über 40 Jahren mit der Gründung der IPPNW begonnen haben, lebt bis heute in unserer Arbeit fort – über Grenzen und Mauern hinweg einen Ausgleich suchen – durch menschliche Begegnung und gegenseitigen Respekt.